Tagblatt – 9. Dezember, 2015
Ania Losinger und Mats Eser stellen im Club Voltaire ihre Performance “Scope” vor. Sie bieten Kunst, die da beginnt, wo Worte versagen:
Klangtänzerin Ania Losinger und Multi-Instrumentalist Mats Eser aus Bern präsentieren am 20. Dezember im Tübinger Club Voltaire eine Musik- und Tanzperformance, die weltweit einzigartig ist.
Aller Klang ist Musik, sagen Verfechter experimenteller Sounds. Und alles Material wiederum lässt sich zum Klingen bringen und als Musik verstehen. Das ist nur eine Frage der Perspektive und vor allem des Kontextes. Alles ist Klang, und selbst die Stille ist Rhythmus. Man muss nur genau hinhören.
Das genaue Hinhören – und Hinsehen – lohnt sich auch bei dem Schweizer Künstlerpaar Ania Losinger und Mats Eser, besteht ihr Instrumentarium doch allein aus einem Fender Rhodes und Bodenxylophon, einem weltweit einzigartigen Instrument, das mit Flamencoschuhen tanzend bespielt wird. Mit dieser sogenannten elektroakustischen “Xala” begleitet die studierte Pianistin und ausgebildete Flamencotänzerin ihren Partner, indem sie über das am Boden liegende Instrument tanzt und es gleichzeitig mit zwei mannshohen Stöcken bearbeitet. Die Musik, die dabei entsteht, erinnert an sphärische Klangwelten, an eine meditative Mischung aus aktuellen Klangimpulsen, vom tranceartigen “Minimal Song” bis zu raumfüllenden Grooves. Es ist ein Dialog zwischen zwei Musikern, die sich zum Prinzip gemacht haben, den unausgetretenen Pfad der musikalischen Fährtensuche zu begehen.
Ungewöhnlich ist nicht nur die Musik selbst, sondern vor allem die Art, wie diese Musik erzeugt wird. Neben dem unverwechselbaren, glockenähnlichen Klang eines Fender Rhodes steht ein Unikat im Mittelpunkt, das Ania Losinger bereits 1998 mit dem Instrumentenbauer Hamper von Niederhäusern entwickelt hat. Die dritte Ausführung des Instruments Xala III ist ein Klangobjekt aus Holz- und Metalltönen, das zum Klingen gebracht wird, indem Losinger darauf tanzt, mit den Füßen stampft und es mit langen, massiven Holzstäben traktiert. Es hat nur etwa zwei Quadratmeter Fläche, wiegt etwas über 100 Kilo und ist in fünf Teile zerlegbar. Das seltsame Instrument wurde erstmals öffentlich bei der Weltausstellung 2010 in Schanghai eingesetzt, als Ania Losinger und Mats Eser drei Wochen lang im spanischen Pavillon (als einzige Nicht-Spanier) auftraten.
So entstand eine faszinierende Synthese aus Musik und Tanz, modern und dennoch archaisch: “Der Aufenthalt in der Metropole Shanghai löste bei uns eine solche Flut an Bildern, Klängen und Eindrücken aus, dass wir ein rund 60-minütiges Tanz- und Musikstück aufnahmen”, berichtet Ania Losinger. “FÚ” und “Shanghai Patterns” waren die ersten beiden Alben einer Trilogie, die inzwischen mit der CD “Scope” abgeschlossen wurde. Anstatt der zuvor mit der Xala kombinierten Marimba spielt der 51-jährige Mats Eser hier auf dem Fender Rhodes, einem E-Piano, dessen Klangqualität perfekt zur elektronischen Variante von Ania Losingers Parkettbodenxylophon passt. Was sich hier abspielt, ist ein hoch konzentrierter Dialog, der eine enorme energetische Kraft ausstrahlt. Warum? “Ich spiele dieses Instrument nicht nur, ich bin selber Teil davon”, gibt die 45-jährige Ania Losinger die Antwort.
Auch wenn musikalischer Tiefgang und intelligente Klangideen heute so gut wie nie den Durchbruch im Musikgeschäft versprechen, hält dieses Schweizer Künstlerpaar bereits seit fast 20 Jahren an diesen Prinzipien fest. Beide sind dafür bekannt, konsequent an ihrer künstlerischen Identität zu arbeiten. Das Projekt “Scope” ist ein Teil davon, der den Musikern genügend Raum für unterschiedliche repetitive Strukturexperimente lässt. Man sollte sich dieses spannende Klangerlebnis nicht entgehen lassen.
Jürgen Spieß